Die neue Orgel des Kollegiums «Maria Hilf» in Schwyz (1915)
«Der Chorwächter» 40. Jg. Nr. 3/1915, Seiten 28–33
Schweizerische Nationalbibliothek/NB, Bern, Rq 4201
Transkription: Franz Oswald
(Von Prof. W. Krieg, Musikdirektor)
Im Jahre 1894 wurde eine neue Orgel aus der Orgelbaufirma Goll und Cie. In Luzern durch die zwei Experten Herrn Domchordirektor Stehle in St. Gallen und Herrn Musikdirektor Schildknecht in Hitzkirch kollaudiert, ein Werk, das allgemein aufs vorzüglichste befriedigte.
Blick vom Chor auf die neue Orgel
Dann kam die furchtbare Brandkatastrophe vom 3. April 1910 und zerstörte nebst ungezählten andern herrlichen Sachen auch unsere Orgel so vollständig, dass davon auch gar nichts übrig blieb, als einige wenige Eisenteile. Es erstund in erstaunlich kurzer Zeit ein neues Kollegium, weit geräumiger und praktischer eingerichtet. Auch die Kirche steht nun in ihrer ganzen Vollendung da, nachdem auch das schöne Altargemälde und die neue Orgel ihren Platz gefunden haben. Dieses allgemein bewunderte Werk stammt wieder, wie das frühere, aus der weit über die Schweizergrenze hinaus rühmlichst bekannten Orgelfirma Goll und Cie. in Luzern. Am 27. April 1913 wurde die Orgel kollaudiert. Schon beinahe ein ganzes Jahr lässt sie ihre hehre Stimme bei gar zahlreichen Anlässen zum Lobe Gottes und Mariä und zur Erbauung der Andächtigen erschallen. In dieser Zeit haben ihr sehr viele erste Autoritäten, die das Werk prüften, höchstes Lob und Anerkennung gespendet. Wenngleich die herrliche Akustik der Kirche der Tonentfaltung sehr günstig ist, so lässt die neue Orgel gegenüber der alten, in Bezug auf machtvolle, imposante, klare Gesamtwirkung und nicht weniger durch die Fülle herrlicher Soloregister und bestrickend schöner Klangmischungen eminente Vorzüge erkennen.
Wie auf allen Gebieten der Kunst, so sind auch auf dem Gebiete des Orgelbaues in den letzten Jahren in technischer und tonlicher Hinsicht ganz bedeutende Erfindungen und Vervollkommnungen gemacht worden. Ganz speziell die Intonationskunst ist zu einer künstlerischen Vollendung gediehen, wie sie frühere Zeiten nicht gekannt, nicht geahnt. Wer schon Gelegenheit gehabt, eine modern ausgestattete Orgel mit all den vielen Spielhilfen, Nebenzügen und automatisch wirkenden Apparaten, mit ältern Instrumenten zu vergleichen, der kann gar nicht begreifen, wie man sich früher mit den geradezu primitiven technischen Einrichtungen behelfen konnte. Diese neuen Spielhilfen schaffen einerseits die Möglichkeit, das vorhandene Klangfarbenmaterial in restloser Weise auszunützen und Mischungen und Effekte zu erzielen, welche ohne diese, selbst mit einer bedeutend grössern Registerzahl nicht erreichbar wären; anderseits sind sie berufen, dem Organisten das Spiel zu erleichtern, was von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, da so ein Organist gar vielerlei nebeneinander zu besorgen hat: Noten lesen, Blätter wenden, die Register ziehen, mit Händen und Füssen spielen, den Echo- und Rollschwellertritt bedienen, an vielen Orten gleichzeitig noch den Gesangschor dirigieren – beim Spiele also ein recht geplagter Mann. Da kommen ihm gar verschiedene Neueinrichtungen zu Hilfe: die Möglichkeit der Vorbereitung von Registermischungen vor dem Spiele (freie Kombinationen), leichte Wechsel der Mischungen durch Kopplungen, bequeme Handhabung der Züge, Nebenzüge etc. durch automatische Wirkungen etc. etc.
Es können für die Spielhilfen wie auch für die Traktur der Orgel im allgemeinen nur solche Konstruktionen und Materialien in Frage kommen, welche den Einflüssen der Temperatur wie auch der Feuchtigkeit und Trockenheit nicht unterliegen, weil sonst Solidität und zuverlässige Funktion in Frage gestellt würden.
Wie beim technischen, so spielen auch beim tonlichen Teil Mensuren, Konstruktion und Material eine Hauptrolle. Man darf sich deshalb nicht wundern, wenn die bedeutendsten Orgelbauer zu jeder Zeit je und je ihr Hauptaugenmerk auf diese eminent wichtige, ja wesentlichste Seite der Orgelbaukunst richteten, um Verbesserungen der klanglichen Werte, d. h. Ansprache, Präzision, Gehalt, Sonorität, Charakteristik und Kombinationsfähigkeit des Tones Hand in Hand mit dessen Vervollkommnung in Bezug auf Unempfindlichkeit gegen Temperatureinflüsse bei normalen und abnormalen Temperaturen; dauernde Stabilität des Tones und unveränderliche Erhaltung der Eigenschaften des Tones zu verbinden.
Bei unserer neuen Orgel ist dieses Problem in vollendeter Weise gelöst worden und der Erfolg ist ein geradezu glänzender zu nennen. Trotzdem die Register ohne Ausnahme normale Klangstärken besitzen, weisen die einzelnen Manuale wie auch das Plenum eine würdige, imposante, wuchtige Kraft und Klarheit des Tones auf, die wirklich überwältigend wirkt, weil keine Zersplitterung des Tones ihr anhaftet. Die Mischungsfähigkeit der einzelnen Register hat, durch blühend frische, poesievolle Klangfarben ihre höchste Vollkommenheit erreicht, und die Orgel enthält einen Reichtum an Mischungsmöglichkeiten, der fast unerschöpflich ist.
Die Disposition zu diesem herrlichen Werke wurde von einer Autorität, Hochw. Herrn Dompropst Walther in Solothurn entworfen und lautet wie folgt:
I. Manual: Bourdon 16’, Principal 8’, Bourdon 8’, Gamba 8’, Flauto amabile 8’, Octav 4’, Rohrflöte 4’, Cornett 8’, Mixtur 2 2/3 , Oktav 2’, Trompete 8’.
II. Manual: Liebl. Gedackt 16’, Geigenprincipal 8’, Salicional 8’, Conzertflöte 8’, Liebl. Gedackt 8’, Dolce 8’, Clarinette 8’, Trompete 8’, Traversflöte 4’, Harmonia aethera 2 2/3.
III. Manual: Rohrflöte 16’, Hornprinzipal 8’, Viola d’orchestre 8’, Flûte harmonique 8’, Quintatön 8’, Aeoline 8’, Voix céleste 8’, Krummhorn 8’, Flûte amabile 4’, Piccolo 2’, Liebl. Gedackt 8’.
Pedal: Principalbass 16’, Subbass 16’, Posaune 16’, Violoncello 8’, Oktavbass 8’, Echobass 16’, Dolcebass 8’.
Die Spielhilfen sind folgende:
Manualkopplung II. z. I. Man.; Manualkopplung III. z. I. Man.; Manualkopplung III. z. II. Man. Superoktavkopplung II. z. I. Man.; Superoktavkopplung III. z. I. Man.; Superoktavkopplung III. z. II. Man.; Superoktavkopplung im II. Man.; Superoktavkopplung im III. Man. Suboktavkopplung II. z. I. Man.; Suboktavkopplung III. z. I. Man.; Suboktavkopplung III. z. II. Man.; Suboktavkopplung im III. Man. Pedalkopplung I. Man.; Pedalkopplung II. Man.; Pedalkopplung III. Man., Superoktavkopplung II. z. Pedal; Melodiekopplung I. z. II. Man.; Generalkopplung; Normalkopplung; zwei freie Kombinationen; Druckknöpfe für P. MF. F. FF. TT. Grd. Jeu, Ausl.; Tritte für P. MF. F. FF. TT. Grd. Jeu, Ausl.; Rollschweller mit Zeiger; autom. Pedalschaltung auf Collect. Rollschw. Reg. Chöre wirkend; Registerchöre: Principalchor, Gambenchor, Trompetenchor, Flötenchor, Auslösungen der Zungen einzeln; Tremolo II. und III. Man.; Echotritte II. und III. Man.; Calcantenzug.
Die Intonation besorgte in künstlerisch vollendeter Weise ganz nach den Anweisungen und Intentionen des Herrn Goll, Herr Drechsler. Jedem Register gab er einen bestimmten, gleichmässig durch alle Oktaven gehenden Charakter. Man wird nicht leicht ein Orgelwerk finden, das poesievoller klingende Streicher, glanzvollere Flötenregister enthält. Die Intonation ist freilich vielfach Geschmackssache. Was der eine schön findet, verurteilt der andere. Die Drechslersche Intonationskunst aber erntet das höchste Lob zahlreicher, grösster Autoritäten auf diesem Gebiete.
Trotzdem jedes Register ein kleines Kunstwerk für sich ist und darstellt, so verdienen doch die nachfolgenden Charaktergruppen und Einzelregister ganz besondere Erwähnung.
Die Streicher, wie Gamba 8’, Salicional 8’, Dolce 8’ und Aeoline 8’ zeichnen sich durch ganz besonders ausgeprägte Charakteristik und Feinheit des Tones und des Striches aus. Die Viola d’orchestre 8’ im III. Manual ist das erste Register dieser Konstruktion in der Schweiz und wirkt durch seinen feinen Strich und den äusserst sympathischen Schmelz auf das angenehmste.
Die Zungenregister, wie: Trompete 8’ im II. Manual stehend und ins I. Manual transmutiert, sowie die Posaune 16’ sind wegen ihrer gehaltvollen, charakteristischen Klangtimbres äusserst wirkungsvoll. Clarinette 8’ im Echokasten des II. Manuals wirkt mit ihrem etwas starken metallenen Ton fein orchestral und ergibt prächtige Mischungen mit Quintatön 8’, Viola 8’, etc. etc. Als Soloregister wirkt sie ausgezeichnet gemischt mit Lieblich Gedackt 8’, wodurch sie einen ganz angenehmen Holzton erhält. Krummhorn 8’, ein in alt-französischen Orgeln oft verwendetes Register, mit herrlicher, hornartiger, äusserst effektvoller Wirkung, der Liebling der Zuhörer.
Die Flötenregister sind durchweg von fein differenzierter Wirkung, durch die drei Manuale geradezu wundervoll abgetönt nach Stärke und Charakter. Flûte har. 8’ im III. Manual gibt vollendet den Ton der grossen Orchesterflöte wieder.
Mixturen. Die Mixtur im I. Manual, welche in ihrer Zusammenstellung die Reihenfolge der natürlichen Aliquottöne in vollendeter Weise wiedergibt, ist von einer herrlichen Wirkung. Sie kann schon für schwache und mittelstarke Mischungen mit Glanz als Soloregister verwendet werden.
Harm. aetherea 2 2/3’ mit Streichermensur verbreitet duftigen Silberglanz von seltener Schönheit. Noch wäre manche herrliche Perle unter den Registern unserer Orgel zu erwähnen, was uns aber der Raum nicht gestattet.
Der Spieltisch ist ein wahres Prachtstück von höchster Vollkommenheit. Er hat ovale Form und enthält 3 Manuale und 1 Pedal, 39 Züge für Register und Transmissionen; die Zahl der Koppelungen beträgt 19; ferner zwei freie Kombinationen etc., total 226 diverse Züge und Hilfszüge. Die diesen Registern entsprechende Gesamtzahl der Pfeifen beträgt 2548, von denen die längste 5,4 m., die kürzeste noch 12 mm Länge hat.
Die Registerzüge und Spielhilfen sind in übersichtlicher Weise angeordnet, so dass man trotz der Menge der Züge, Druckplatten und Manubrien sehr rasch orientiert ist. Die Funktion aller Teile, wie auch die Ansprache, Repetition des Tones ist trotz den äusserst langen pneumatischen Leitungen mustergültig, sicher und präzis. Der neue Präzisions-Apparat ermöglich selbst auf dem ersten Manual alle pianistischen Spielarten; die schnellsten Läufe, ja selbst Staccati gelingen aufs tadelloseste, gewiss ein herrlicher Beweis von der Vorzüglichkeit des pneumatischen Systems Golls und dies alles trotzdem der Spieltisch verhältnismässig weit von den Pfeifen entfernt ist. Um die Verbindung des Spieltisches und der Pfeifen herzustellen, brauchte man nicht weniger als 5 Kilometer Bleiröhren.
Die Anlage der Orgel ist sehr interessant, indem das ganze Werk an den mächtigen Turmmauern aufgehängt ist; trotzdem sind alle Partien sehr leicht zugänglich und die ganze Empore steht für Chor und Orchester frei zur Verfügung, ein idealer Platz für Sänger und Instrumentalisten. Der gemischte Chor zählt gegenwärtig zirka 100 Sänger, das Orchester gegen 30 Mitglieder. Der Spieltisch steht mitten im Sängerpodium, so dass der Dirigent mit Orchester, Chor und Organist in bester Fühlung steht. Die Orgel wird durch einen elektrischen Orgelbläser neuester Konstruktion mit 1 1/2 PS. Kraftbedarf und mit 35 m3 Luftleistung bedient. Er liefert bei absolut geräuschloser Funktion selbst für das vollgriffigste Spiel reichlich ruhigen Wind.
Am 26. April 1913 wurde das Werk kollaudiert durch zwei Musikautoritäten ersten Ranges, durch Hochw. Herrn P. Ambros Schnyder vom Stift Engelberg und Hochw. Herrn P. Josef Staub vom Stift Einsiedeln. Das Ergebnis dieser Prüfung war im allgemeinen ein vorzügliches. Getadelt wurde die etwas mangelhafte Präzision der Ansprache im I. Manual. Dieser Mangel wurde aber sofort durch Nachregulierung gehoben, so dass P. Ambros die F-dur Toccata von Widor, die aus lauter Staccato-Figuren besteht, mit solcher Präzision und Deutlichkeit zum Ausdruck brachte, als ob er einen Flügel zu spielen hätte.
Am 27. April war dann grosses Fest im Kollegium, die Einweihung der neuen Orgel. Am Morgen war feierliches Hochamt, wobei die B-dur-Messe von Weirich für gemischten Chor und Orchester zur Aufführung gelangte und nachmittags kirchenmusikalische Aufführung durch den Institutchor und Vorführungen des neuen Orgelwerkes durch den erstklassigen Orgelkünstler P. Ambros Schnyder, nach folgendem Programm:
1.a) Variationen, b) Cantabile, Orgelvortrag aus der V. Symphonie von Widor (gespielt von Hochw. Herrn P. Ambros). 2. O salutaris hostia für gemischten Chor von Bartsch. 3. Freie Fantasie (gespielt von Hochw. Herrn P. Ambros). 4. XII. Station für gemischten Chor von Witt. 5. a) Prière à Notre Dame aus «Suite Gothique» von Boëllmann; b) Allegretto in h-moll von Guilmant (gespielt von Hochw. Herrn P. Ambros). 6. Tu es Petrus für 6-stimmigen gemischten Chor von Paletrina. 7. Sonate in d-moll I. Satz von Rheinberger (gespielt von Hochw. Herrn P. Ambros).
Segensandacht. a) Während der Aussetzung: Cor Jesu für gemischten Chor von Stehle. b) Nach gebeteter lauretanischer Litanei: Ave Maria für gemischten Chor von Renner. c) Tantum ergo für 6-stimmigen gemischten Chor von Mitterer. d) Nach dem Segen: Maria-Hilf-Lied, einstimmiger Volksgesang; Postludium für Orgel.